Eisenbahn im Film  –  Rail Movies 
 

 

 

 

Un Flic

 

Art: Spielfilm
Produktion: Frankreich 1972
Regie: Jean-Pierre Melville
Farbe: Eastmancolor
Laufzeit: 95'
deutscher Verleihtitel: „Der Chef“

 

Inhalt

An einem 23. Dezember überfällt eine Gangsterbande um den Nachtklubbesitzer Simon (Richard Crenna) die Filiale der Banque Nationale de Paris (BNP) in St-Jean-des-Monts. Bei einem Schusswechsel wird einer von ihnen – Marc Albouis (André Pousse) – schwer verletzt. Die Bankräuber flüchten mit dem Wagen zum nächstgelegenen Bahnhof, wo sie das Fluchtfahrzeug wechseln. Nachdem die Beute irgendwo unterwegs vergraben wurde, kehrt das Quartett nach Paris zurück. Albouis wird vor einer Notfallklinik abgelegt und später als Sicherheitsrisiko durch Cathy (Catherine Deneuve) – die als Krankenschwester auftretende Komplizin von Simon – liquidiert.

Die Beute aus dem Banküberfall dient der Gangsterbande nur dazu, einen letzten spektakulären Coup landen zu können. Geplant wird der Überfall auf einen Drogenkurier im Nachtzug nach Lissabon. Aber auch Kommissar Coleman (Alain Delon) – pikanterweise ein guter Freund von Simon – hat bereits einen Tipp bekommen, wann und wie das Heroin von Bordeaux nach Hendaye gelangen soll.

 

Allgemein

In seinem letzten Werk präsentierte sich Regisseur Melville nicht mehr durchwegs auf der Höhe seiner Schaffenskraft, wie dies noch bei „Le samouraï“ (Frankreich/Italien 1967) oder „Le Cercle Rouge“ (Frankreich/Italien 1970) der Fall war. Trotzdem ist seine unnachahmliche Virtuosität immer wieder spürbar, wie beispielsweise im Intro mit dem Banküberfall an der sturmgepeitschten Atlantikküste, welches noch immer seinesgleichen sucht. Die in melancholischen Blautönen gehaltenen Bilder vermitteln eine permanente Stimmung größter Desillusionierung, wobei es der bis in die Nebenrollen überzeugenden Besetzung gelingt, in den meist dialogarmen Sequenzen nur mit Gesten und Blicken eine maximale Wirkung zu erzielen. Natürlich wissen auch die Szenen im Schlafwagen sehr zu gefallen, welche an Authentizität kaum zu überbieten sind.

 

Eisenbahn

Die erste bahn-spezifische Szene ist schon kurz nach dem Banküberfall zu sehen. Sie zeigt einen SNCF-Dieseltriebwagenzug der Reihe X 4500 „Caravelles“ (Hersteller ANF, geliefert 1963 bis 1970) aus Richtung St-Gilles-Croix-de-Vie auf dem Bahnübergang Rue de Roche-sur-Yon in Challans. Während Simon den 1966er-Ford Plymouth Fury auf dem Bahnhofvorplatz parkiert, kaufen sich seine Komplizen am Schalter drei Fahrkarten erster Klasse nach Paris, um eine falsche Fährte zu legen. Anstatt den abfahrtbereiten „Omnibus“ (Bummelzug) nach Nantes zu nehmen, verlassen die Männer den Hausbahnsteig unauffällig und steigen zu Simon in einen 1966er-Mercedes 250 SE. Später wird in einer abbruchreifen Absteige irgendwo in der nördlichen Pariser Bannmeile der Überfall auf den Drogenkurier geplant, derweil in der Nähe unentwegt SNCF-Vorortszüge aus dreiteiligen Wechselstrom-Triebwagen der Reihe Z 6100 (Hersteller C&F/Alsthom/CEM, geliefert 1965 bis 1971) vorüberrattern.

Die Strecke

Gemäß den Ausführungen von Simon während des konspirativen Treffens mit Paul Weber (Riccardo Cucciolla) und Louis Costa (Michael Conrad) soll sich das Husarenstück auf einem Abschnitt der Hauptstrecke Bordeaux–Hendaye abspielen, welche von den Französischen Staatsbahnen (SNCF) Mitte der 1950er-Jahre für deren Schnellfahrversuche herangezogen wurde. Dies aufgrund der auch von Simon erwähnten Tatsache, dass das 65 Kilometer lange Teilstück zwischen Lamothe und Morcenx völlig eben und fast schnurgerade verläuft. Ende März 1955 erreichten hier – zumindest nach offizieller Lesart – sowohl die SNCF-Elektroloks CC 7107 (Co’Co’, Alsthom 1952) als auch die BB 9004 (Bo’Bo’, Jeumont-Schneider 1952) mit einer speziell präparierten Dreiwagengarnitur eine Spitzengeschwindigkeit von 331 Stundenkilometern und überboten damit den bisherigen Weltrekord aus dem Jahre 1903.

Simon erläutert zudem, dass der betreffende Streckenabschnitt bereits seit 1923 elektrifiziert ist. In der Tat wurde die Elektrifizierung der Etappe Hendaye–Bordeaux mit 1500 Volt Gleichstrom anno 1927 abgeschlossen, weshalb Melville in seinem Plot den durchaus plausiblen Umstand konstruiert, dass die elektrischen Anlagen wegen Überalterung gerade erneuert werden. Daher fehlen im fraglichen Abschnitt auch die bekannten „gotischen“ Fahrleitungsjoche.

Der Zug

Der Nachtzug nach Lissabon ist als fiktiver „Rapide 501“ ausgeschildert, der sich jedoch bis zur spanischen Grenze exakt in der Fahrplan-Lage von Zug 4029 nach Irun bewegt. Ersichtlich wird dies in der ersten Einstellung auf dem Stirnperron der Gare d’Austerlitz während der Lautsprecherdurchsage für den „Rapide 501“, als die Fahrplantafeln diverser Fernzüge zu sehen sind. Dabei sticht optisch die in rot gehaltene Angabe des Trans-Europ-Express „Le Capitole“ heraus (siehe auch „The Day of the Jackal“). Zudem liefert die Fahrplantafel des TEE 5 „L’Étendard“ ein weiteres Indiz dafür, dass die Dreharbeiten während des Winterfahrplans 1971/72 stattfanden.
 

ZugZielAbfahrtGleisBemerkung
503Irun13.55*„Sud Express“
4057Tours9.03/069 
4061Tours13.40* 
3521Saint-Gervais0.0814 
4029Irun23.5991)
4359Bordeaux23.568 
14035Bordeaux23.4011 
4025Irun23.4310 
5911Clermont-Ferrand9.038 
471Port-Bou*11 
4425Avignon22.59* 
509Irun22.5010 
14421Toulouse22.27* 
4421Limoges21.5210 
5Bordeaux*4„L’Étendard“2)
75Toulouse*3„Le Capitole“3)
4403Limoges6.505 
7003Orléans6.472 
4017Pau/Tarbes21.497„Pyrenées Express“4)
4015Irun21.30/435 
   
* nicht ersichtlich, weil außerhalb des Kamerablickfelds
 
 Ziffernerklärungen:
 1)reales Vorbild für den „Rapide 501“
 2)als TEE ab dem Winterfahrplan 1971/72
 3)als TEE ab dem Winterfahrplan 1970/71
 4)mit Schlafwagen CIWL-Typ P und Liegewagen
© 2013-2015 GUR

 

Mit dem Rapide 503 „Sud Express“ ist auch die ehemals berühmteste Verbindung auf dieser Route vertreten. Anno 1969 war der bisherige Spitzenzug zwischen Paris und Madrid durch den neu lancierten „Puerta del Sol“ verdrängt worden. Dieser Nachtzug führte erstmals spurwechselfähige Schlafwagen vom CIWL-Typ UH (Serie 4581 bis 4620, Hansa/Donauwörth 1957) mit, so dass deren Fahrgäste an der französisch-spanischen Grenze in Irun nicht mehr in den breitspurigen Anschluss der RENFE umsteigen mussten. Ein halbes Jahr vor Beginn der Dreharbeiten war der „Sud Express“ nochmals degradiert worden, nachdem er im Mai 1971 als letzter der klassischen Rapide seinen langjährigen Pullmanwagen (zuletzt CIWL 4150, Typ „Cote d’Azur“, EIC 1929) verloren hatte. Dafür wurden ab 1973 umspurbare Liegewagen nach Lissabon mitgeführt, welche später auch nach Porto und Vigo verkehrten.

In der Bahnsteig-Szene mit „Mathieu la Valise“ (Léon Minisini) ist nur der hintere Teil des Zuges zu sehen, als der Drogenkurier am Gleis 9 entlanggeht und schließlich den einzigen Schlafwagen (CIWL-Typ Lx) entert. Die restliche Wagenreihung des „Rapide 501“ wird erst bei der Ankunft in Bordeaux St-Jean offenbar, als der Nachtzug hinter der sechsachsigen SNCF-Maschine 68522 (A1A’A1A’, Serie 68501 bis 68540, Hersteller CALF/CEM/SACM/Fives-Lille, geliefert 1963 bis 1968) einläuft, derweil im Hintergrund eine der 318 diesel-elektrischen BB 66000 (Bo’Bo’, Hersteller CAFL/Alsthom/CEM/SACM/Fives-Lille, geliefert 1960 bis 1968) manövriert. Es sind jedoch gewisse Zweifel angebracht, ob hier tatsächlich am Originalschauplatz gedreht wurde, da die diesel-elektrische Baureihe A1AA1A 68500 im Depot Chalindrey beheimatet und daher fast ausschließlich in der SNCF-Region Ost anzutreffen war, vor allem auf der Ligne 4 (Paris–Belfort–Basel). Jedenfalls präsentiert sich die auf Gleis 7 gezeigte Garnitur wie in der folgenden Tabelle:
 

SNCFGattungTyp/Serie
Liegewagen 2. KlasseBc9OCEM FL
Liegewagen 2. KlasseBc9OCEM FL
Bar-WagenB4r 
SpeisewagenVrCIWL 4265-4274
SchlafwagenWLABCIWL Lx
Seitengangwagen 1. KlasseA8OCEM FL
Seitengangwagen 2. KlasseB9OCEM FL
Seitengangwagen 2. KlasseB9OCEM FL
PostwagenDPOCEM RA 1924
© 2013-2015 GUR

 

Es mag irritieren, dass sowohl ein Voiture-Bar als auch ein Voiture-Restaurant eingereiht sind – speziell in einem Nachtzug mit einer Abfahrtszeit um 23.59 Uhr. Diese Konstellation fand sich beispielsweise auch im Winterfahrplan 1966/67 beim Rapide 605 Paris–Lausanne oder im Sommerfahrplan 1967 beim Rapide 15 Paris–Marseille. In beiden Tagesschnellzügen liefen der Bar- und der Speisewagen jedoch nicht unmittelbar hintereinander.

Produktionsnotizen

Die Dreharbeiten starteten am 13. November 1971 und dauerten insgesamt fünf Monate. Der akrobatische Überfall auf den Drogenkurier – eingeplant sind dafür 20 Minuten – wird in Echtzeit gezeigt und entstand vollständig in den Pariser Studios de Boulogne, nachdem Melvilles Filmatelier einem Großfeuer zum Opfer gefallen war. Die formale Umsetzung dieser Sequenz vermag heutigen Ansprüchen nur noch bedingt zu genügen. Dennoch können die Nahaufnahmen dank der aufwendigen Kulissenbauten noch allemal überzeugen. Dort wurde kurzerhand ein Helikopter vom Typ SA 316 Alouette III unter die Hallendecke gehängt, derweil sich darunter der akribische Nachbau eines CIWL-Schlafwagens vom Typ Lx befand.

Ganz nach dem Vorbild Alfred Hitchcock mit seinen Frühwerken „Secret Agent“ (GB 1936) und „The Lady Vanishes“ (GB 1938) entschied sich Melville dazu, in den Totalen auf Miniaturmodelle des Zuges sowie des Hubschraubers zu setzen, die dann auf einer weiträumigen Rundum-Modellbahnanlage im Maßstab 1:87 mit einer Spurweite von 16,5 Millimetern agierten. Die Kamera wurde derweil entlang der inneren Anlagenkante und teilweise synchron zum Modellbahnzug beziehungsweise Helikoptermodell geführt, wodurch dank den großzügigen Kurvenradien der Eindruck einer – wie im Original – schnurgeraden Trasse entstand.

Leider geriet der Schnitt ausgerechnet beim Großteil dieser Einstellungen etwas zu lang, wodurch die Diskrepanz zwischen Trick- und Realsequenzen ziemlich offensichtlich wird und sich der eigentlich passable Gesamteindruck doch merklich trübt. Zumal die ebenfalls aus neun Waggons bestehende Garnitur in der Nenngröße H0 trotz der an sich korrekten Reihung auch nicht vollständig überzeugen kann, was nicht so sehr an der notabene nur vierachsigen Diesellok der Reihe BB 67000 (Achsfolge B’B’, Hersteller BL/MTE, geliefert 1963 bis 1968) liegt, die aus dem Hause Jouef (Artikelnummer 8411) stammen dürfte. Viel mehr korrespondiert das restliche Rollmaterial nur bedingt mit der realen Garnitur (siehe die Tabelle oben) insofern, als die verwendeten SNCF-Waggons wenig vorbildgetreu wirken und eher moderneren Nachkriegsbauarten gleichen.

Zudem präsentieren sich die beiden CIWL-Fahrzeuge irgendwie sonderbar. Der Speisewagen lässt ein konkretes Vorbild vermissen, derweil beim Schlafwagen vor allem das aufgesetzt wirkende Dach irritiert. Auch dass der SNCF-Postwagen im Vergleich zum in der erwähnten Bahnsteig-Szene gezeigten Vorbild zu kurz geraten ist, gibt Anlass zur Spekulation, es könnte sich um mehr oder weniger gelungene Eigenbauten handeln, womöglich in der Nenngröße 0 (Maßstab 1:45) mit einer Spurweite von 32 Millimetern oder größer. Nebenbei erwähnt wäre mit dem Fleischmann-H0-Modell der SNCF-Diesellok 68001 (Artikelnummer 4280) eine optisch absolut korrekte Alternative auf dem Markt gewesen. Wie auch immer: Alleine die Dreharbeiten mit der Modellbahnanlage zogen sich über drei Wochen hin.

 

Abschließend die Film-Einschätzung von Lothar Behlau:

     

„Sehr lange Szenen in und um einen CIWL-Schlafwagen des Typs Lx, die mit bester fachlicher Beratung original (bis hin zum Vierkantschlüssel des Darstellers!) gedreht wurden. Die Handlung insgesamt kann man vergessen, aber die Atmosphäre der WAGONS-LITS ist ausgezeichnet eingefangen.“

 

Autor dieser Filmbesprechung: Manuel Gurtner
Online: 09.12.2002
Version vom 20.12.2015

 

 

Hier sind Sie:
  • „Eisenbahn im Film – Rail Movies“, Extra-Info
Zur Film-Liste „Eisenbahn im Film – Rail Movies“:
  • hier klicken (die Tabelle wird stets neu geladen)
  • falls die Tabelle bereits geladen ist: je nach Browser-Version über die Task-Leiste oder über ein dafür bereits zuvor geöffnetes internes Fenster
Navigation: Tipp: Sie haben bei Ihrem aktuellen Besuch der Tabelle (Hauptliste) bereits Extra-Infos abgerufen, diese aber nicht „geschlossen“: neu angeklickte Extra-Infos stets (je nach Browser-Version) über die Task-Leiste oder im entsprechenden internen Fenster einsehen.